Maurice Halbwachs Summer Institute

Organisatoren
Lichtenberg Kolleg Universität Göttingen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.08.2016 - 03.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Maurice Cottier, Historisches Institut, Universität Bern

Das Maurice Halbwachs Summer Institute (MHSI) an der Universität Göttingen fand dieses Jahr zum dritten Mal statt. Die aktuelle Veranstaltung trug den Titel „Crime, Dis/Order, Narration“ und stand unter der Leitung von REGINA BENDIX (Universität Göttingen), HARMUT BLEUMER (Universität Göttingen), WOLFGANG KNÖBL (Hamburger Institut für Sozialforschung) und HUBERTUS BÜSCHEL (Universität Groningen). Zwanzig Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler aus verschiedenen Kontinenten und unterschiedlichen Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften trafen sich, um sich während einer Woche in den Räumlichkeiten der Historischen Sternwarte über ihre laufenden Forschungsvorhaben auszutauschen.

Die Bandbreite der Themen und Zugangsweisen war erwartungsgemäss groß. Aber der gemeinsame Fluchtpunkt der meisten Projekte waren die gesellschaftliche Wahrnehmung und der gesellschaftliche Umgang mit Kriminalität – im Gerichtsaal, durch die Polizei, in der Wissenschaft und Literatur, in Film und Fernsehen, aber auch durch die Menschen, die selbst als Kriminelle bezeichnet wurden. So ging es unter anderem um Anarchie und Narrative der politischen Gewalt in Südamerika im 19. Jahrhundert; den Umgang und die Deutung von Emotionen in sowjetischen Gerichtssälen um 1920; visuelle Repräsentationen von Drogenkriminalität in Brasilien; Übungsanlagen für den polizeilichen Einsatz bei Demonstrationen; und sexuelle Gewalt und neoliberale Gouvernementalität in der Türkei.

Das Ziel der Veranstaltung war es einerseits, dass sich die Teilnehmenden auf der Grundlage von Posterpräsentationen und Peer-to-Peer Diskussionen über ihre Projekte unterhalten konnten. Andererseits bestand die Möglichkeit, sich einzeln und in Gruppen ausgiebig mit den eingeladenen Seniors JEAN COMAROFF, JOHN L. COMAROFF (beide Harvard University) und DANIEL STEIN (Universität Siegen) auszutauschen.

Die Höhepunkte der drei Tage waren jeweils die Key Notes der Seniors. Die Sozialanthropologen Jean und John L. Comaroff gaben Einblicke in ihre ethnographische Feldarbeit zu Kriminalität, Polizei und Justiz in Südafrika. In ihrem Referat „Divine Detection: Crime and the Metaphysics of Disorder“ stellte Jean Comaroff vorab mit Émile Durkheim fest, dass das Gesetz und die Kriminalität sich wechselseitig konstituieren. Um Regeln setzen zu können, sei eine Gesellschaft daher auf ‚ihre‘ Verbrechen angewiesen. Umgekehrt bedeute dies auch, dass beschleunigter sozialer Wandel bestehende Normen verwässert und neue hervorbringt. Anhand mehrere Bespiele aus dem postkolonialen Südafrika zeigte Jean Comaroff, wie sich die Fragen, was Kriminalität sei und wie sie zu bekämpfen sei, in den letzten 25 Jahren entscheidend verändert haben. Allein mit den hohen Kriminalitätsraten des Landes lasse sich diese Entwicklung nicht erklären. Die aktuelle Obsession mit dem Verbrechen sei vielmehr Teil einer ambivalenten Neuaushandlung des Verhältnisses zwischen Bürgern und Staat. Von Polizei und Justiz werde einerseits Schutz und Sicherheit erwartet, anderseits werde ihnen diese Kompetenz abgesprochen. In diesem Kontext betreten neue, erfolgsversprechende Protagonisten die Bühne der Kriminalitätsbekämpfung – seien sie fiktiv oder real. Diesen Figuren sei gemeinsam, dass sie Kriminalität als Phänomen begreifen, das sich an der Grenze zwischen dem Irdischen und dem Überirdischen bewegt. Konsequenterweise bedürfe auch das Aufspüren der Verbrecher besonderer spiritueller Qualitäten. Jean Comaroff sah das Aufkommen alternativer Verbrechensjäger als Ausdruck und Teil einer neuen Sinngebung nicht nur krimineller Handlungen, sondern auch einer postkolonialen und postmodernen Sozialordnung.

Anschließend an die erste Key Note vertiefte John L. Comaroff den Zusammenhang zwischen Kriminalität und postkolonialen Gesellschaftsverhältnissen in Südafrika mit seinem Referat „The Return of Khulekani Khumalo, Zombie Captive: Identity, Law, and Paradoxes of Personhood in the Postcolony“. Dafür griff er das Beispiel eines Doppelgängers heraus. Zwei Jahre nach dem Tod eines bekannten südafrikanischen Sängers reklamierte ein Mann dessen Identität. Als Grund für seine Abwesenheit gab er an, dass er in der Zwischenzeit von Zombies gefangen gehalten worden sei. Obwohl die äußeren Merkmale des Mannes nicht mit dem Verstorbenen übereinstimmten, waren sich die näheren Angehörigen des Sängers unsicher, ob es sich nicht doch um den verloren geglaubten Angehörigen handelte. Natürlich ging es John L. Comaroff nicht darum, den Fall, der aktuell die südafrikanische Justiz beschäftigt, zu lösen. Vielmehr sah er den Konflikt um die wahre Identität des Sängers als Ausdruck einer Kultur, in der das Annehmen wechselnder Identitäten epidemische Ausmaße angenommen habe. Denn im heutigen Südafrika – so John L. Comaroff – wimmle es beispielsweise von falschen Krankenschwestern, Ärzten und sogar Polizisten. Die Kultur des Kopierens von Identitäten müsse im Zusammenhang mit der Liberalisierung – sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Art – verstanden werden. Die postkoloniale Gesellschaft gebe theoretisch jedem und jeder die Möglichkeit, sich prosperierend zu entfalten. Gleichzeitig habe die Umorganisation und Internationalisierung der Wirtschaft den Arbeitsmarkt neu strukturiert, so dass die Verdienstmöglichkeiten für ungebildete Menschen zunehmend verschwinden.

Der Literaturwissenschaftler Daniel Stein schließlich stütze sich bei seinem Vortrag „Festering Corruption and Vice in High Places: Narrating (Slavery as a) Crime and (Racial) Dis/Order in Antebellum America“ auf das Genre sogenannte city mysteries (oder urban mysteries). Dabei handelt es sich um serielle Romane zu den rasch wachsenden amerikanischen Großstädten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der aufziehenden Spannungen zwischen den Nord- und Südstaaten. City mysteries charakterisieren die amerikanischen Städte als Ort blühender Kriminalität und Korruption – nicht nur, aber vor allem auch in den höheren sozialen Schichten. Wichtiger Bestandteil dieser fiktiven Unordnung seien ambivalente Figurationen der schwarzen Stadtbewohner, die einerseits als gefährlich und kriminell, aber anderseits als zu Unrecht benachteiligt darstellt wurden. Laut Stein reflektieren die city mysteries ein zeitgenössisches Gefühl des allgemeinen Normen- und Sittenzerfalls in Zeiten rasch voranschreitender Urbanisierung. Allerdings böten die Narrative keine Auswege oder Lösungen an. Vielmehr war das von den Romanen seriell hervorgerufene Zerfallsgefühl der Grund, weshalb die Geschichten weiter gelesen und gekauft wurden.

Das MHSI 2016 erinnerte grundlegend daran, dass Kriminalität niemals unabhängig von vorherrschenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ordnungsnarrativen gedacht werden kann – und vice versa. Dieses Verständnis ist sicherlich nicht neu, sondern geht bis in die Anfänge der Soziologie als Wissenschaft zurück und hat auch wesentlich die kritische Theorie postmoderner Prägung bestimmt. Allerdings haben die Vorträge aber auch die Nachwuchsprojekte eindrücklich gezeigt, dass das Verhältnis von Kriminalität, Narration und (Un-)Ordnung höchst dynamisch ist, von zahlreichen Akteuren ständig neu ausgehandelt wird und sich auf äußerst komplex Weise verändert.

Konferenzübersicht:

Opening remarks

Participants present their posters, part I

Participants present their posters, part II

Working Groups A-D: meeting and preparation of central questions

Keynote Jean Comaroff: "Divine Detection: crime and the metaphysics of disorder"

Working Groups A and B: Feedback and questions with Jean Comaroff

Working Groups C and D: Debate on texts from Jean and John L. Comaroff and Daniel Stein and discussion about Ph.D. projects

Working Groups C and D: Feedback and questions with Jean Comaroff

Working Groups A and B: Debate on texts from Jean and John L. Comaroff and Daniel Stein and discussion about Ph.D. projects

Keynote John L. Comaroff: "Imposture, Law, and the Policing of Personhood: the return of Khulekani Khumalo, zombie captive"

Working Groups C and D: Feedback and questions with John L. Comaroff

Working Groups A and D: Discussion about Ph.D. projects

Possibility for one-on-one conversations with Jean Comaroff, John L. Comaroff and Daniel Stein

Guided tour of the police academy Hann. Münden

Borderlandmuseum Eichsfeld

Working Groups A and B: Feedback and questions with John L. Comaroff

Working Groups C and D: Discussion about Ph.D. projects

Keynote Daniel Stein, "Festering Corruption and Vice in High Places: Narrating Crime and Dis/Order in Antebellum America"

Working Groups A and B: Feedback and questions with Daniel Stein

Working Groups C and D: Preparation for panel discussion

Working Groups C and D: Feedback and questions with Daniel Stein

Working Groups A and B: Preparation for panel discussion

Panel discussion

Farewell dinner